So wie in Dahab das normale Leben im Tourismus weitergeht – wenn auch mit weniger Gästen als im letzten Jahr – so gehen in Kairo die Demonstrationen und das Töten weiter. Es ist bizarr, wie weit weg 500 km erscheinen können. Anders als vor einem Jahr findet die ägyptische Jugendbewegung keinen Rückhalt mehr in der breiten Bevölkerung. Mubarak war ein gemeinsames Feindbild, alle waren überrascht davon, wie leicht er sich demontieren ließ.
Das Militär zielte auf genau jenem Effekt ab, den wir jetzt beobachten können. Sie opferten den Bauern, um die Massen zu beruhigen, und um Zeit zu gewinnen, damit die die Hausmacht im Hintergrund gefestigt werden konnte. Die Rechnung ging auf. Die freien Wahlen werden von religiösen Parteien gewonnen, vor allem von den Muslimbrüdern, die sich jahrzehntelang um die arme Bevölkerung gekümmert haben und deswegen in guten Ansehen steht. Sie ernten die Früchte der Revolution, an der sie kaum Anteil hatten, während die Initiatoren – vor allem junge und gebildete ÄgypterInnen – auf der ganzen Front verlieren.
In Romanen ist der Held oft eine tragische Figur, die chancenlos gegen Windmühlen kämpft. Es steht zu befürchten, dass die ägyptische Jugendbewegung diese Rolle nun übernimmt und sich am Tahrirplatz totläuft. Tot nicht nur im übertragenem Sinn, sondern wortwörtlich. So wie die chinesische Jugend 1989 am Tiananmen-Platz aufgerieben wurde, so könnte es auch der ägyptischen ergehen. Sie haben keine Waffen, keinen Rückhalt in der breiten Bevölkerung, keinen charismatischen Führer, der eine klare Richtung vorgeben könnte. Alles, was sie haben, ist eine tiefe Liebe für ihr Land und die Opferbereitschaft, ihr Leben zu lassen, allein für die Möglichkeit, dass es eines Tages allen Menschen in Ägypten – nicht nur die wenigen Reichen – gut gehen könnte und sie in Freiheit leben.
Dafür riskieren sie Verletzungen, Traumatisierungen und den Tod, während eine dem Militär nahe stehende Fernsehstation ihren Müttern mitteilt, sie verdienten zwanzig Peitschenhiebe auf die Füße (sehr schmerzhaft, weil es direkte Nervenverbindungen von der Fußsohle ins Gehirn gibt!), da sie ihre Kinder nicht richtig erzogen hätten.
Das Bild einer jungen Frau (siehe
http://www.youtube.com Stichwort: Blue Bra), die halb entblößt und wehrlos von mehreren Soldaten brutal verprügelt wird, erschüttert vor allem das Ausland, aber nicht die ägyptische Kanapee-Fraktion, die gemütlich auf ihrem Sofa sitzt und befindet, die Frau hätte nichts besseres verdient, schließlich gehöre eine Frau ins Haus und nicht auf die Straße.
Niemand redet von dem Mut dieser jungen Frau. In Ägypten sind Frauen ihr Leben lang sexuellen Belästigungen ausgesetzt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegen. Die harassmap (http://harassmap.org/?l=en_US), eine Seite, die Belästigungen von Frauen in Ägypten registriert und zusammenfasst, gibt davon einen guten Eindruck, obwohl dort nur ein Bruchteil der Vorkommnisse gemeldet wird. Die Demonstrantinnen am Tahrir riskieren mehr als die Männer, denn körperlich schwächer und durch Vergewaltigung weit verletzbarer, sind sie ein beliebtes Opfer, um nicht zu sagen, Freiwild geworden.
Es schmerzt zu denken, dass die Opfer dieser Frauen vielleicht sinnlos und vergebens sind. Sollten die religiösen Parteien tatsächlich die Macht im Land übernehmen, werden sie logischerweise versuchen, die Rechte der Frauen nach ihren Glaubensvorstellungen weiter einzuschränken.
Ist das alles daher sinnlos?
Nein. Revolutionen, auch die niedergeschlagenen, bringen immer eine gesellschaftliche Veränderung. Fraglich ist nur, in welche Richtung sie gehen wird: zu mehr Konservativismus und religiösem Fanatismus oder zu mehr Freiheit und allgemeinen Wohlstand?
Traurig ist, dass die TrägerInnen der Revolution nur selten zu den Siegern oder gar zu den Überlebenden zählen.
Je verzweifelter ein Held gegen unüberwindbare Hindernisse kämpft, desto mehr bewundern wir ihn. Wir bewundern den Mut, die Courage, die Selbstlosigkeit, mit der sich jemand für ein höheres Ziel opfert, wir leiden mit, wir hoffen und beten, er möge es schaffen. Ein Happy End bekommen wir dann, wenn irgendein unglaubliches Wunder geschieht, dass aus dem offensichtlichen Verlierer schließlich doch einen Gewinner macht. Ich hoffe auf ein Wunder für Ägypten.