Aufstand in Ägypten: 30.1.2011
Ich wache auf und es ist gespenstisch still. Normalerweise liebe ich die Ruhe in Dahab, aber um diese Zeit sollte es nicht so still sein. Keine Autos fahren, nirgendwo eine Hupe und sonst hupt immer irgendwo wer. Keine Kinder auf der Straße, nichts. Ich gehe mit dem Hund spazieren, wie immer, doch zum ersten Mal stecke ich mein Handy ein. Nur für den Fall. Damit könnte ich auch Photos machen. Die Straßen sind ruhig, es sind nur wenige Leute zu sehen, die ihren normalen Tätigkeiten nachgehen. Trotzdem fühle ich Angst, zum ersten Mal richtige Angst. Ich bin froh, nach Hause zu kommen. Prüfe das Internet, immer noch nichts, d.h. die Situation hat sich nicht entspannt. Dann der Anruf einer Freundin aus Kairo. Es sei zu schweren Plünderungen gekommen, die Geheimpolizei wiegle Leute auf, die Polzei ist völlig aus der Stadt verschwunden und nichts mehr wird bewacht oder beschützt. Sie rät, nicht alleine zu Hause zu bleiben und Informationen über einen Fernseher zu bekommen. Ihr Anruf stürzt mich in Panik.
Ich habe nicht einmal eine Telefonnummer meiner Botschaft. Das ist meine erste Aufgabe. Rufe eine Österreicherin in Kairo an, die mir die Nummer besorgen kann. Sie war auf der Freitagsdemonstration und erzählt, überall hätten sich Bürgerwehren gebildet, um die Nachbarschaft vor Plünderungen zu beschützen.
Ich besuche eine deutsche Freundin, die in der Nachbarschaft wohnt und nehme meinen Hund mit. Fühle mich nicht mehr sicher. Wir tauschen Geschichten aus. Sie ist sehr nervös, weil sie einen kleinen Sohn hat und so viele Gerüchte herumschwirren.
Angeblich hätten Beduinen aus dem Nord-Sinai in der letzten Nacht versucht, in den Süden zu kommen, um hier zu plündern, die Süd-Beduinen hätten sie aber zurückgeschickt. In Sharm soll es gebrannt haben. Gut, dass ich das nicht letzte Nacht hörte, sonst hätte ich vor Angst nicht schlafen können. Wir beschließen, Geld von der Bank zu holen und einige Vorräte einzukaufen. Nur für den Fall. Die Geldautomaten geben noch Geld her, die Banken blieben heute geschlossen. Am Weg treffen wir eine Südafrikanerin, die zusammen mit ihrem ägyptischen Mann ein Hotel besitzt. Ihr Mann hat auch einen Schweizer Pass und gehört sicher zu den gut informieren Leuten. Sie beruhigt uns. Die Gerüchte seien nur Gerüchte, nichts davon ist wahr. In Sharm sei gar nichts passiert. Wir seien sicher, die Jackpoints sind alle gesperrt, niemand kann rein oder raus. Das beruhigt ein Stück.
In der Bucht sieht es aus wie immer. Die Touristen liegen am Strand und braten in der Sonne. Die Restaurants haben geöffnet. Aber ich sehe auch viele ernste Gesichter und von den Einheimischen hängt praktisch jeder am Telefon. Informationen, Informationen sind jetzt das wichtigstes, um die Situation einschätzen zu können.
Wieder zu Hause informiere ich meine Botschaft, dass ich im Land bin, damit ich dort registriert bin und die mich anrufen, sollten sie uns evakuieren. Eine Tasche mit dem notwendigsten habe ich gepackt, Geld und Pass liegen bereit, aber achje, was geschieht mit meinen Haustieren, wenn ich weg muss? Der Katze kann ich jede Menge Trockenfutter hinstellen, sodass sie Wochen überlebt. Über den Hund denke ich besser nicht nach, das muss ich dann spontan entscheiden.
Eine Privatschülerin erscheint tatsächlich zu ausgemachten Zeit, doch während des Unterrichts merke ich, wie oft meine panischen Gedanken abschweifen, Szenarien durchspielen oder Erinnerungen an Gespräche und Informationsfetzen abrufen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. Nach der Arbeit ruft meine Mutter an und bitte mich, heimzukommen. Ich versichere ihr, dass es mir gut geht und die Botschaft informiert ist, sodass ich im Notfall von denen evakuiert werden könnte. Ich weiß, sie ist nicht beruhigt und macht sich Sorgen, aber es erscheint mir im Moment wirklich das sicherste, in Dahab zu bleiben.
Hier gibt es noch Militär und Polizei, es gab keine Demonstrationen oder sonstige Unruhen. Gehe ich nach Taba oder Sharm habe ich keine Ahnung, was dort weiter passiert. Soll ich Ägypten tatsächlich verlassen, frage ich mich immer wieder.
Dann telefoniere ich mit einen ägyptischen Freund, der in Downtown in der Nähe des Innenministeriums wohnt. Er versichert mir, es sei gar nicht so schlimm in der Stadt, wie es in den Medien dargestellt werde. Es gäbe nur wenige Plünderungen und auch um das Innenministerium herum sei es ruhig. Er habe selbst zwischen Zamalek und Downtown ohne Schwierigkeiten hin und her fahren können. Die Regierung betreibe gezielte Desinformation, um die Leute in Angst zu versetzen. Die Proteste selbst seien sehr zivilisiert und friedlich abgelaufen. Die Geheimpolizei versuche, Leute zu Plünderungen aufzuwiegeln, aber es sei zu keinen größeren Problemen gekommen.
„Transportiere dieses Bild hinaus,“ bittet er mich. Das werde ich tun. Bin wieder ein Stück ruhiger, da keine unmittelbare Gefahr zu bestehen scheint.
Es fällt mir auf, dass es halb drei Uhr nachmittags ist und ich den ganzen Tag noch nichts gegessen habe. Mir war einfach in der ganzen Aufregung nicht danach. Esse etwas gegen den ärgsten Hunger und überlege, ob ich auch Vorräte horten sollte. Um fünf habe ich endlich soviel gegessen, wie ich normalerweise zum Frühstück zu mir nehme. Die Aufregung schnürt mir die Kehle zu, aber ich werde ruhiger.
Niemand kann sagen, wie es weitergeht. Flieht Mubarak außer Landes, gibt es dann Chaos und Bürgerkrieg? Kann er sich an der Macht halten und mit harter Hand durchgreifen? Oder bleibt die Situation wochenlang im Ungewissen und kommt es dann zu Versorgungsengpässen? Ich bin gerne vorbereitet, also kaufe ich Kartoffeln, Reis und Nudeln, die sich im Fall der Fälle lange haltbar sind.
Der Fall der Fälle, welcher wird eintreten? Ich drücke dem ägyptischen Volk beide Daumen, damit sie endlich einen Zukunft für dieses Land aufbauen können.