Mittwoch, 28. September 2011
Der Cyber-Revolution-Side-Effect
Man sagt, die arabische Revolutionsbewegung, die sich seit dem Frühjahr 2011 durch Nordafrika und den Nahen Osten bewegt, begründe sich unter anderem auf das Internet und soziale Netzwerke wie Facebook. Welch wichtiges politisches Hilfsmittel das Internet auch in der Organisation der Demonstrationen in Ägypten und den anderen Ländern dargestellt haben mag, es ist interessant zu beobachten, wie die Menschen in einer spezifischen Nachwirkungen der massenhaften Nutzung die neuen Freiheiten und Möglichkeiten der virtuellen Welt für sich entdeckten.
In explosionsartigen Weise vernetzen sich Menschen, finden für gemeinsame Unternehmungen zusammen, informieren sich über gegenseitig über wichtige und unwichtige Dinge und knüpfen Kontakte mit Unbekannten, die sie im alltäglichen Leben vielleicht nie getroffen hätten.
In den letzten sechs Monaten ist die Anzahl der Foren auf Facebook, die sich mit Dahab beschäftigen, von drei, vier auf eine unübersehbare Menge angewachsen, eine Auswahl sind z.B. Dahab 4 Women, Dahab sale, Dahab Expats, Dahab News & Talk, Dahab Garden, Dahab Community Market usw.
Wo immer Menschen zusammen kommen, ob real oder virtuell, gibt es Tratsch, Gerüchte und als Wahrheit dargestellte Vermutungen. Im Internet verliert man schnell seinen guten Ruf, wird diffamiert und beschimpft, ohne dass man sich dagegen wirklich zur Wehr setzen könnte. In der Anonymität einer Großstadt mag das nicht so schlimm sein, doch in kleineren Netzwerken wie einer Schule, einer Firma oder einem Dorf wie Dahab kann das verheerende Auswirkungen haben.
Die sozialen Netzwerke wie Facebook oder Google+ lassen eine neue virtuelle Öffentlichkeit entstehen, der mittelalterliche Marktplatz wird sozusagen neu erfunden. Und so wie man im Mittelalter Sünder und Verurteilte am Marktplatz an den Pranger stellte, genauso stellt man heute Menschen an den virtuellen Pranger, in diesem Fall allerdings ohne Verurteilung, sondern einfach nur, weil jemanden die Äußerung eines anderen nicht gefällt.
Wir hören von Schülern, die Selbstmord begehen, weil sie zuvor durch Cyber-Mobbing öffentlich gedemütigt und entblößt wurden. Jemand kann seine Arbeit kündigen, weil er sich durch Attacken im Netz verfolgt und gedemütigt fühlen.
In einem kleinen Ort wie Dahab, wo überdurchschnittliche viele Menschen lokal und international vernetzt sind, ist so ein virtueller Pranger schnell aufgestellt und der Nicht-Verurteilte - also dem Gesetz nach noch als Unschuldig geltende - ist freigegeben mit allem verbalen Schmutz und Gemeinheiten beworfen zu werden, die der unbegrenzten menschlichen Fantasie ad hoc einfällt. Begriffe wie Netiquette (http://en.wikipedia.org/wiki/Netiquette) sind hier kaum jemanden ein Begriff, noch gibt es die Tendenz, sich an irgendwelche sozialen Regeln wie Achtung oder Respekt zu halten.
Eine private Anfrage in einem Facebook-Forum wird dann schnell landesweit von Unbekannten be- und verurteilt, wird bewertet und verworfen. Jeder, der dazu eine Meinung hat, tut diese auch weit schweifend kund oder - im besten Falle - gibt seine Unterstützung bekannt. Auf die Anfrage selbst geht kaum jemand ein, es gibt kein Ja oder Nein oder tiefergehende Fragen. Stattdessen müssen unzählige Menschen – wie wir in Österreich so schön sagen – ihren Senf dazu geben. Sie geben ihre Meinung ab, die Sachfrage ist unwichtig, wichtig ist nur, dass man dem Fragesteller gehörig seine Meinung sagt.
Die neu entdeckten Möglichkeiten des Internets geben einem Nutzer plötzlich große Macht und setzten durch die virtuelle Distanz die Hemmschwelle für Verurteilungen und Tratsch stark herab. In dieser Weise wird menschliches Verhalten und menschliche Bedürfnisse in einem Maße beurteilt und ungeniert abgewertet, dass sich immer mehr Benutzer in sozialen Foren unwohl fühlen und sich von den virtuellen Netzwerken zurückziehen. Sie verlieren dadurch die Vorteile der sozialen Vernetzung, aber das ist ihnen dann weniger wichtig als ihre persönliche Integrität.